Scheitern – (k)ein Thema in der Lehrkräftebildung?

Zu sehen ist ein sinkendes Schiff

Juniorprofessorin Dr. Anne Kirschner blickt gemeinsam mit Studierenden auf ein Seminar zurück, bei dem es um die „Anatomie des Scheiterns am Lehrer:innenberuf“ ging.

Wer an unserer Hochschule Lehramt studiert, möchte nicht nur herausfinden, wie man als Lehrkraft erfolgreich unterrichtet, sondern inzwischen auch, wie man dabei möglichst gesund bleibt. Daher überrascht es nicht, dass ein Seminar zum Thema „Scheitern am Lehrer:innenberuf“ im Mastermodul Sekundarstufe I bei den teilnehmenden Studierenden zunächst für Irritationen sorgte. Zum Ausdruck kommt dies in abschließenden Seminarreflexionen, die mir Studierende für diesen Text zur Verfügung gestellt haben – beispielsweise so:

„Wer den Titel von Jun.-Prof. Dr. Anne Kirschners Seminar „Scheitern im Lehrer:innenberuf“ liest, könnte zunächst den Eindruck gewinnen, dass hier beispielsweise Alternativen zum Lehrberuf aufgezeigt werden – ganz nach dem Motto: Der Lehrberuf war nichts für mich, was mache ich jetzt mit meinem Abschluss? oder dass hier Wege aufgezeigt werden, das Scheitern zu vermeiden.“

Weil es im Seminar aber weder um das eine noch um das andere, sondern um die Anatomie des Scheiterns aus theoretischen und empirischen Perspektiven ging, kamen auch enttäuschte Erwartungen in den Rückmeldungen zum Ausdruck:

„Schade, ich hatte mir mehr Praxistipps erhofft.“

In den damit verbundenen Vorstellungen und Wünschen zeigt sich eine wesentliche Facette des Scheiterns: der Wille zur Scheiternsvermeidung. Auf Ebene der pädagogischen Praxis ist dieses zentrale Motiv nicht nur häufig mit ungewollten Nebenwirkungen verbunden, sondern geht auf Seiten der Lehrkräfte auch mit Wahrnehmungen von Kraft- und Energieverlust einher. So belegen die jüngst veröffentlichten Ergebnisse des Schulbarometers (2024), dass sich ein Drittel der befragten Lehrkräfte Erschöpfungssymptome zuschreibt und mehr als ein Viertel den Beruf wechseln würde, wenn es denn die Möglichkeit dazu gäbe. In diesem Zusammenhang verfolgte das Seminar eine spannungsreiche Zielsetzung: So galt es einerseits, das Sprechen über Phänomene des Nicht-Gelingens, Verfehlens, Misserfolgs und Versagens im Schuldienst zu enttabuisieren, ohne diese jedoch andererseits im Sinne pädagogisch motivierter Optimierungsnarrative („erfolgreiches Scheitern“) zu positivieren.

Dieses Anliegen entspringt ersten Erkenntnissen aus meinem Forschungsprojekt KRISEL (KRItik und SchEitern im Lehrer:innenberuf). Darin untersuche ich Ausstiegserzählungen, um zu verstehen, wie Lehrkräfte, die den Schuldienst vorzeitig verlassen haben, ihre Berufsbiografien entwerfen. Ich möchte dabei verstehen, inwiefern sich negative Phänomene wie z.B. das Scheitern von Bildungs- und Erziehungsvorstellungen in Verbindung mit schulischen Strukturen und Bedingungen zeigen. Diese Suchbewegung ist nicht unverfänglich, da es sich bei der Verwendung des Begriffs „Scheitern“ immer auch um eine nachträgliche Zuschreibung handelt, die ein existenzielles Verfehlen von lebenspraktischen Vollzügen unterstellt. Zudem birgt sein Einsatz die Gefahr, das jeweilige Misslingen als ein singuläres Phänomen, d.h. allein in der Verantwortung des Individuums stehend, zu betrachten. Hier schließen sich nicht zuletzt auch (forschungs-)ethische Perspektiven an, die wir im Seminar diskutierten. Dass man angesichts dieser komplexen Zusammenhänge ein bisschen „um die Ecke denken“ musste, wurde von den Studierenden (im besten Sinne) als besonders herausfordernd wahrgenommen, denn:

„Das Seminar war anspruchsvoll, hat mich allerdings persönlich gefordert und gefördert.“

Die Interviews mit vorzeitig ausgestiegenen Lehrkräften boten für die begrifflichen und methodischen Fallstricke des Scheiterns vielfältige Gesprächsanlässe. Denn die Befragten haben, unabhängig von Schulform und Verweildauer im Schuldienst, viel über die Kehrseiten des Erfolgs zu erzählen: Sie berichten von zerbrochenen Strukturen, Boden- und Gesichtsverlust, vergleichen das Betreten des Schulraums mit einem „Sprung ins Haifischbecken“. Sie bringen auf diese Weise die organisationalen Anforderungen und Veränderungen auf ganz unterschiedliche Weise mit Energie- bzw. Kraftverlust in Verbindung.

Im Seminar ging es ausgehend von diesen Befunden vor allem darum, mithilfe intensiver Textarbeit nachzuzeichnen, inwiefern Machbarkeits-, Höherentwicklungs- und Fortschrittsideale nicht „natürlich“ in der Welt (oder der Person) vorkommen, sondern, genauso wie die Tabuisierung des Scheiterns in der Pädagogik, Ergebnis und Ausdruck von normativen Ordnungen sind. Mit den Worten der Teilnehmenden:

„Bei vielen Seminaren wird ein bestimmter Gegenstand untersucht bzw. betrachtet. Im Seminar Scheitern am Lehrer:innenberuf haben wir uns (bzw. wurde es uns) zur Aufgabe gemacht, den Begriff Scheitern nicht nur zu beobachten, sondern tatsächlich zu verstehen. Es ging nicht darum, die Gründe zu finden, warum Lehrer:innen aufhören, Lehrer:innen zu sein, sondern die Praktik und systematische Konstruktion des  Scheiterns als Ergebnis  von Zuschreibungspraktiken, biographischen Selbstentwürfen und system-organisatorischen Strukturen zu verstehen.“

Das Scheitern besitzt folglich auch eine gesellschaftliche Dimension, die es zu reflektieren gilt, statt den Problemzusammenhang undurchschaut mit individuellen Präventions- und Bewältigungsstrategien zu wiederholen. Aus diesem Grund forcierten wir im Seminar nicht die Entwicklung von Positivierungsstrategien – etwa „wie ich aus dem (auch eigenen) Scheitern „lernen“ kann. Wir entwickelten stattdessen ein gemeinsames Reflexionswissen hinsichtlich des (historisch bedingten) Zusammenwirkens von Schule, Gesellschaft und Individuum.

Schließen möchte ich diesen Beitrag mit einem besonderen Dank an die teilnehmenden Studierenden, die mit ihren anregenden Widersprüchen, Fragen und Diskussionen zu einer produktiven Atmosphäre der Ent-Täuschung beitrugen, denn:

„[…] vermeintlich einfache Antworten liefert das Seminar eher weniger. Vielmehr erlebte ich eine ganz neue Art, über das Thema sowie den Begriff des Scheiterns nachzudenken. Sie [Frau Kirschner, AK] beleuchtet das Scheitern durch den Fokus auf die dahinterliegenden gesellschaftlichen Machtstrukturen und Hegemonien. Diese Herangehensweise befreit die Diskussion von normativen Wertungen und öffnet den Blick dafür, wie tiefgreifend unsere beruflichen und persönlichen Erfahrungen beeinflusst sind, d. h., eben nicht jeder seines eigenen Glückes Schmied ist.“

Zu sehen ist ein Portrait von JunProf. Dr. Anne Kirschner
Anne Kirschner, Foto privat

Jun.-Prof. Dr. Anne Kirschner ist an der Hochschule im Bereich Erziehungswissenschaft/Allgemeine Pädagogik tätig. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind politische, gesellschaftliche und historische Aspekte von Bildung und Erziehung, Pädagogische Anthropologie, Ethik und Pädagogik.

Kontakt: a.kirschner@ph-heidelberg.de

Foto im Teaser: © PopoudinaSvetlana (istockphoto.com)

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