Im Herzen von Lions Bay, einem idyllischen Dorf nahe Vancouver in Kanada, findet sich eine kleine „Primary School“, eine Grundschule, die von einer ganz eigenen Atmosphäre des Lernens und Zusammenhalts geprägt ist. Mit rund 30 Schüler:innen ist sie nicht nur eine Bildungsstätte, sondern ein Mikrokosmos des täglichen Lebens. Ich habe dort 2023 ein paar Wochen ein Schulpraktikum gemacht, von dem ich hier erzählen möchte.
Enge Verbindung zur Natur
Die Schule in Lions Bay zeichnet sich nicht nur durch ihre geringe Schüler:innenzahl aus, sondern auch durch die enge Verbindung zur Natur. Umgeben von Wäldern und direkt am Ufer des Ozeans gelegen, ist schon der Schulweg ein Abenteuer durch eine atemberaubende Landschaft. Die Schüler:innen werden dabei zu Entdecker:innen, die ihre Umgebung als Teil ihres Klassenzimmers erleben. In Lions Bay ist Bildung eine Reise, bei der man nicht nur Bücher liest, sondern auch die Welt um sich herum.
Schularchitektur und Gemeinschaft
Lichtdurchflutet präsentiert sich die Lions Bay School als ein großer Raum, der den umgebenden Wald in sich einschließt. Eine Wand, etwa zwei Meter hoch, trennt die Vorschule und die 1. Klasse von der 2. und 3. Klasse. So ergeben sich zwei große Räume, die durch eine offene Decke miteinander verbunden sind. Trotz scheinbarer Trennung entsteht ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Der offene Grundriss verbindet nicht nur die Räume, sondern auch alle Altersstufen, die hier gemeinsam lernen.
Morgens um 8.45 Uhr beginnen die Kinder mit verschiedenen kreativen Tätigkeiten den Tag – ein Morgenritual, das nicht nur den Start in den Unterricht erleichtert, sondern auch die Vielfalt des Lernens in dieser einzigartigen Umgebung unterstreicht.
Lernen ohne richtig und falsch
In den beiden Klassenzimmern geht es dann weiter mit Sprach- oder Mathematikunterricht. Ich bekomme erklärt, dass es hier keine klaren „richtigen“ oder „falschen“ Lösungswege gibt. Denn nicht nur das Ergebnis steht im Mittelpunkt, sondern auch der individuelle Denkprozess, der dazu geführt hat. Dieser Ansatz bestätigt die Schüler:innen darin, dass ihre kreativen Lösungsansätze wertgeschätzt werden. So werden nicht nur fachliche Fähigkeiten entwickelt, sondern auch ein positives Selbstbild und die Gewissheit, dass es viele Wege gibt, um erfolgreich zu lernen und Herausforderungen zu bewältigen.
Nach dem ersten Unterricht folgt die Pause, in der alle Kinder nach draußen können. Der weitläufige Spielplatz im Wald bietet eine anregende Umgebung. Entlang eines kleinen Baches können die Kinder ihre kreativen Energien entfalten und mitten in der Natur neue Entdeckungen machen.
Nach der Pause kommen alle vier Klassen zusammen und tauchen gemeinsam in die verschiedenen Themen von Kunst, Sport, Musik und Biologie ein. In der offenen Lernumgebung ist es selbstverständlich, dass alle voneinander profitieren. Die stärkeren Schüler:innen unterstützen diejenigen, die noch stärker werden möchten. Ein besonderes Merkmal dieser Schule ist die gemeinschaftliche Anstrengung, in der jeder Einzelne als Teil des Ganzen gesehen wird. Die Atmosphäre ist geprägt vom gemeinsamen Streben nach Wissen und einem respektvollen Miteinander, in dem jeder seine Stärken einbringen kann.
Exkursion mit Bärenspray
Heute steht ein besonderes Abenteuer auf dem Stundenplan: Eine Exkursion in den Wald. Die Schüler:innen gehen auf Entdeckungstour, um Pflanzen für ihre Herbarien zu sammeln. In Deutschland nehmen Lehrkräfte ein Erste-Hilfe-Set mit, in der Lions Bay School rüstet man sich für Waldausflüge mit zusätzlichen Vorkehrungen aus. Bärenspray und Bärenglocke gehören zur Standardausrüstung. Sicherheit steht an erster Stelle, und die Kinder dürfen nicht vorausrennen. Im Gruppenzug ist sowohl vorne als auch hinten jeweils eine Aufsichtsperson mit dabei.
In dieser praxisorientierten Umgebung erfahren die Schüler:innen nicht nur die botanischen Aspekte der Pflanzen, sondern auch die kulturelle Bedeutung durch die indigenen Namen. Dadurch wird viel Verständnis für die indigene Kultur vermittelt, was einen integralen Teil des ganzheitlichen Lernansatzes der Schule darstellt. Denn das Dorf Lions Bay in Kanada liegt im traditionellen Land der indigenen Völker. In Kanada gibt es viele indigene Gemeinschaften mit unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und Traditionen. Anzuerkennen, dass ein bestimmtes Gebiet auf dem traditionellen Land der indigenen Völker liegt, ist ein wichtiger Schritt in Richtung Respekt ihrer historischen und gegenwärtigen Verbindungen zu diesem Land.
Musik verbindet
Zurück in der Schule habe ich die große Freude, heute Musik zu unterrichten. In den vergangenen Wochen habe ich den Schüler:innen Ukulelenunterricht gegeben. Die Schüler:innen haben vier Akkorde erlernt, die nun die Grundlage für unser musikalisches Projekt bilden. Ich teile die große Gruppe in vier kleinere Gruppen auf, von denen jede einen der gelernten Akkorde spielt. Unser Ziel: Das Lied „I Like the Flowers“ gemeinsam auf den Ukulelen zum Klingen zu bringen.
Ich begleite die Kinder am Klavier und steuere den Einsatz für jede Gruppe, wenn sie mit dem Spielen an der Reihe ist. Und tatsächlich: Es gelingt! Die Klänge der Ukulelen fügen sich harmonisch zusammen, und die Melodie von „I Like the Flowers“ erfüllt den Raum. Es ist nicht nur ein musikalisches Abenteuer, sondern auch eine Gelegenheit für die Kinder, ihre individuellen Fähigkeiten im Kontext einer größeren Gemeinschaft zu erleben.
Zusammenhalt geht durch den Magen
In der Lions Bay School ist das Mittagessen abwechslungsreich. Zwei Mal pro Woche bringen die Kinder ihre eigenen Lunchpakete mit, einmal kochen die Eltern für alle. An den anderen beiden Tagen dürfen sich die Kinder auf Sushi oder Pizza aus dem benachbarten Ort freuen. Währenddessen liest eine Lehrkraft aus einem von den Kindern ausgesuchten Buch vor, danach geht es wieder für alle nach draußen in die Pause.
Nach der Pause versammeln sich alle Schüler:innen für die gemeinsame Kunststunde. Mit Thanksgiving vor der Tür steht ein besonderes Projekt an: Jedes Kind darf seinen eigenen Truthahn zeichnen. Die Lehrerin nimmt sich Zeit, jeden Strich genau vorzuzeichnen, und gibt den Kindern ausreichend Raum, ihre Anweisungen umzusetzen. Am Ende dürfen die Kinder ihren Truthahn nach Belieben ausmalen und ihm ihre eigene Note verleihen.
Am Ende des Schultags können die Kinder selbst entscheiden, was sie tun wollen. Egal, ob sie lesen, an einem kreativen Projekt arbeiten oder einfach Zeit mit Freunden verbringen – die „Choices“ ermöglichen den Kindern, den Tag auf ihre eigene Art abzurunden. Dies unterstreicht die Wertschätzung für individuelle Neigungen und fördert die Eigenverantwortung. Soviel ist sicher: Während meiner Zeit dort war der Ukulelenunterricht bei den “Choices” der absolute Renner.
Danach geht es ans Aufräumen und Saubermachen. Die Kinder erledigen ihre Aufgaben, ziehen sich ordentlich an und begeben sich anschließend auf den Teppich. Dort wartet ihre Lehrkraft bereits mit einem Buch; der ruhige Abschluss des Tages gibt den Kindern die Gelegenheit, sich gemeinsam zu entspannen.
Inspirationen für meine zukünftige Lehrtätigkeit
Es gäbe noch so viel mehr, was ich gerne teilen würde: Sei es die Erfahrung meiner ersten Erdbebenübung gleich am ersten Tag, der inspirierende Musikunterricht mit dem Akkordeon oder die begeisternde Energie, die hier überall spürbar ist. Nicht zu vergessen die Ausflüge zum Meer. Jede Erfahrung an der Lions Bay School war lehrreich. Die Vielfalt der Erlebnisse hat meinen Horizont erweitert und mich für meine zukünftige Lehrtätigkeit reichhaltig inspiriert. Ich hoffe, dass mein Einblick in den kanadischen Schulalltag das Besondere dieser Lernumgebung vermittelt hat.
Autor: Tim Strahl studiert im Bachelorstudium das Lehramt Sekundarstufe I mit den Fächern Musik und Biologie. Er ist zum wiederholten Mal einer der Vorsitzenden des Studierendenparlaments (Foto: privat).
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