Natur künstlerisch verstehen

Zu sehen ist die Exkursionsgruppe der Hochschule vor dem Schloss "Le Tertre" in Frankreich.

Wie kann ich Natur empfinden? PH-Studierende haben mit französischen Kommiliton:innen diese und verwandte Fragen gemeinsam künstlerisch bearbeitet. Mit drei Lehrenden waren sie eine Woche auf einem Schloss in der Normandie.

UN-Generalsekretär António Guterres mahnte in seiner Eröffnungsrede auf dem Nachhaltigkeitsgipfel der Vereinten Nationen in New York Mitte September, die Menschen hätten mit ihrem klimaschädlichen Verhalten „das Tor zur Hölle“ aufgetan. Hätte die Natur eine Stimme, mit der sie hörbar machen könnte, wie sich Ausbeutung, Krieg, Zerstörung anfühlen, müssten die Menschen sich vor Schmerz die Ohren zuhalten.

Wie steht es jedoch um das menschliche Empfinden der Natur gegenüber, wo sich der Mensch doch bereits weit über ihre Grenzen hinwegsetzt? Der französische Philosoph Baptiste Morizot attestiert dem Menschen in seinem Werk „Philosophie der Wildnis“ angesichts einer systemischen ökologischen Krise eine ,Krise der Sensibilität‘. Er meint damit eine Verarmung hinsichtlich dessen, was der Mensch von seiner Umwelt sehen, fühlen, verstehen kann. Um dieser Wahrnehmungskrise entgegenzuwirken, lädt er dazu ein, staunend in die Natur einzutauchen, sich von ihren Wundern anrühren zu lassen, anstatt sie beherrschen zu wollen und zu zerstören.

Zu sehen ist das Schloss "Le Tertre" in der französischen Normandie.
Das Schloss „Le Tertre“ in der Normandie. Foto: privat.

Kulturprojekt: Bäume.Tränen.Arbres.(A)Larmes

Eine solche von Morizot inspirierte, künstlerisch staunende Haltung der Natur gegenüber haben wir mit zwölf Studierenden der Pädagogischen Hochschule Heidelberg der Fächer Musik und Medienbildung sowie des Institut Supérieur d’Enseignement et d’Éducation Artistiques (CFMI) der Universität Lille gemeinsam einzunehmen versucht. Wir, das sind Dr. Mathias Schillmöller vom Fach Musik und Kerstin Liesegang von der Medienbildung zusammen mit unserem Erasmus+ Partner Philippe Poisson, Leiter des CFMI der Université de Lille.

Im grenzüberschreitenden Kulturprojekt „Bäume.Tränen.Arbres.(A)Larmes“ an den Schnittstellen von Musik, Ästhetischer Bildung, Medienbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung sind wir mit den Studierenden vom 5. bis 10. September 2023 auf gemeinsamer Exkursion in Bellême in der Normandie gewesen. Und zwar an einem ganz besonderen Ort: In „Le Tertre“, dem Schloss des französischen Nobelpreisträgers Roger Martin du Gard. Er hat hier große Teile seiner Romane geschrieben und immer wieder befreundete Künstler:innen für gemeinsame Projekte eingeladen. Dieser Geist wird heute von der Familie des Schriftstellers weiter fortgesetzt. In Le Tertre werden regelmäßig Ausstellungen, Konzerte, Lesungen, Schreibwerkstätten, Theater- und Musikworkshops, Meisterkurse und Kolloquien veranstaltet.

Kollektive kreative Arbeit

Wir haben eine Woche auf dem Landsitz Le Tertre gearbeitet, gelebt und sind in eine kollektive kreative Arbeit eingetaucht. Wir haben damit an vorherige Arbeiten mit PH-Studierenden aus dem Wintersemester 2022/2023 etwa im Projekt „Nichts wie Rhein!“ angeknüpft: Es galt, die Thematik „Bäume.Tränen.Arbres.(A)Larmes“ polyperspektivisch zu erschließen. Szenische Elemente, sprachliche, musikalische und visuelle Kreationen gingen dabei Hand in Hand und flossen in atmosphärische, performative Skizzen ein, die wiederum auch filmisch und fotografisch eingefangen wurden.

Textfragmente von Martin du Gard und dessen europäischem Umfeld sowie literarische Neuschöpfungen zu Natur, Nachhaltigkeit, Wald, Bäume, Trauer, Krieg, Mensch-Sein spielten hier eine zentrale Rolle. Die metaphorische Situation der weinenden gefährdeten Bäume und mögliche Transfers in Zwischenräume innerhalb fließender Grenzen zwischen Kultur(en), Kunstformen, Natur, Mensch sowie menschlichem Handeln wurden auf künstlerische Weise kritisch erkundet. Zum Abschluss haben wir am letzten Tag der Exkursion Ergebnisse dieses gemeinschaftlichen Aufenthaltes vor Publikum aus der Region Le Perche (Bellême) präsentiert.

Zu sehen ist eine Menschengruppe zwischen Bäumen, die ihre Hände in die Luft strecken.
Künstlerische Naturperformance mit Bäumen. Foto: privat.

Bildung für nachhaltige Entwicklung erleben

Die Studierenden erlebten in einem kollaborativen, interdisziplinären Setting einen authentischen literarischen Ort, an dem Natur, Nachhaltigkeitsthemen, Kultur, Geschichte und Kunst eine Einheit bilden. Sie entwickelten im konkreten Kontakt mit diesem Umfeld eigene Perspektiven, artikulierten diese in unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen wie z.B. Soundpainting, Song-Performances, Theaterszenen oder Soundcollagen. Auf diese Weise erarbeiteten sie sich zudem in grenzüberschreitenden Räumen und für ihre jeweils eigene berufliche Weiterentwicklung Projektkompetenzen, in die übergeordnete Nachhaltigkeitsthemen wie Achtsamkeit und Wertschätzung hineingreifen.

Bildung für nachhaltige Entwicklung konnte dabei – schon im Alltagsrhythmus des Schlosses – als Haltung erlebt und gelebt werden. Dazu wurden ebenfalls lokale Künstler:innen-Persönlichkeiten eingeladen, die sich in ihren Werken der Thematik der Bäume und Fragen der Nachhaltigkeitsbildung zugewandt haben: Marc Vellay (Baumskulpturen), Ana Maria Fuensalida (Baumbilder), Béatrice Limon (Pareidologie), Florence Limon (Baum-Performance).

Zu sehen ist eine Frau mit geschlossenen Augen, die einen Baumstamm umfasst.
Szene mit der Schauspielerin Marilena Weichert aus dem Film „Nichts wie Rhein!“ von Mathias Schillmöller, Kerstin Liesegang und Studierenden der PH Heidelberg, uraufgeführt  im  Théâtre Eurodistrict BAden ALsace. Foto: privat.

Deutsch-französische Zusammenarbeit

Die rund um die Aufführung in Park und Schloss von Le Tertre entstandenen Kreationen beschäftigen uns auch im Wintersemester 2023/2024. Im gemeinsamen Seminar „Ästhetische Bildung und Medienbildung“ sowie im Masterstudiengang „E‑Learning und Medienbildung“ werden die Kunstwerke medial weiter bearbeitet.

Wir wollen die gemeinsame Arbeit als Teil einer europäischen, grenzüberschreitenden, deutsch-französischen Zusammenarbeit in das Bewusstsein der in den beteiligten Institutionen agierenden Menschen bringen. Und wir versuchen so auch, den Weg in die Schulen zu Lehrer:innen und Schüler:innen zu finden, um der von Morizot aufgezeigten Krise eine ,Bereicherung der Sensibilität‘ entgegenzusetzen.

Autor:innen: Kerstin Liesegang, M.A., hat Literatur- und Musikwissenschaften an den Universitäten Bordeaux Montaigne (Frankreich), Osnabrück und Urbino (Italien) studiert. Darauf folgten Stationen in Forschung und Lehre an der RWTH Aachen, an der DHBW Karlsruhe (Geschäftsführung Sprachenzentrum) sowie in der Entwicklung Offener Online-Kurse und im eTeaching an der RPTU Kaiserslautern-Landau. Seit 2021 ist sie Akademische Mitarbeiterin (Medienbildung) an der PH Heidelberg. In ihrer Dissertation setzt sie sich mit dem (impliziten) literarischen Engagement des französischsprachigen belgischen Dichters, Roman- und Theaterautors Henry Bauchau auseinander.

Dr. Mathias Schillmöller hat in Freiburg und Paris (Frankreich) Schulmusik, Klavier, Dirigieren, Romanistik, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft studiert und über Ravels Oper „Das Kind und die Zauberdinge“ promoviert. Seit 1995 unterrichtete er die Fächer Musik und Französisch an der Deutschen Schule Paris und am Deutsch-Französischen Gymnasium Freiburg und betreute Chöre, Bigbands und Orchester. Daneben hatte er von 2004 bis 2017 einen Lehrauftrag für Microteaching an der Musikhochschule Freiburg inne und arbeitete als Regisseur. Seit 2017 ist er Dozent an der PH Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind kreatives Klassenmusizieren, ästhetische Bildung, Didaktik der populären Musik und inter-kulturelle Performance.

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