Praktikum hinter Gittern

Zu sehen ist ein Klassenzimmer, ein Lehrer an der Tafel und die Gefängnisinsassen auf Schulbänken

Bachelorstudentin Anna Heine hat in der Gefängnisschule der Münchner Justizvollzugsanstalt ein vierwöchiges Professionalisierungspraktikum absolviert. Ihr PH-Betreuer Dr. Robert Vrban hat sie anschließend nach ihren Erfahrungen gefragt.

Vrban: Frau Heine, Sie haben im März und September 2020 im Rahmen Ihres Bachelorstudiums „Lehramt Bildung im Sekundarbereich“ der Pädagogischen Hochschule Heidelberg ein vierwöchiges Professionalisierungspraktikum (PP) in der Gefängnisschule der Justizvollzugsanstalt (JVA) München absolviert. Wie kam es zu diesem eher ungewöhnlichen Praktikumsort?

Heine: Bereits während meiner Schulzeit habe ich mich für den Strafvollzug interessiert, das war mehr ein Bauchgefühl als eine sachliche Überlegung. In diesem Zuge habe ich über verschiedene Berufsfelder nachgedacht, die das Arbeiten im Gefängnis ermöglichen. Jura schied für mich von vornherein aus, Sozialarbeit war zwar eine Option – aber nachdem ich ein Praktikum in der Sekundarstufe I gemacht habe, entschied ich mich, dieses Lehramt zu studieren. Am Ende des Bachelorstudiengangs stand das PP an, das die Möglichkeit bietet, auch in anderen Bildungseinrichtungen das Praktikum zu absolvieren. Wieder dachte ich an den Strafvollzug! Da ich offen, vielleicht etwas „blauäugig“, aber ohne Angst und Vorurteile dieser Idee begegnete, habe ich es dann einfach gemacht. Nach mehreren Telefonaten mit verschiedenen Justizvollzugsanstalten ist es München geworden, weil hier alles unkompliziert lief und ich sehr freundlich und schnell angenommen wurde. Im Praktikum wurde ich durch die mich begleitende Lehrkraft in der Gefängnisschule sinnvoll beraten und vor allem so unterstützt, dass ich das Gefühl hatte, gut aufgehoben zu sein.

Dieser Artikel wurde zuerst im bildungswissenschaftlichen Magazin daktylos im Herbst 2021 veröffentlicht. Zum daktylos.

zu sehen sind Robert Vrban und Heike Heine im Altbau an einem Treppengeländer
Robert Vrban und Heike Heine, Foto hop/PHHD

Wie sieht eine Schule im Strafvollzug genau aus und wie war die Praktikumsklasse zusammengesetzt?

In diesem reinen Männervollzug bestand die Klasse aus zehn Insassen, die zwischen 19 und 28 Jahren alt waren. Der Unterricht orientiert sich am Bildungsplan Bayerns mit dem Ziel eines qualifizierten Mittelschulabschlusses. Der Schwerpunkt liegt auf den Kernfächern; der Schultag geht von 8.00 Uhr bis 11.00 Uhr und am Nachmittag werden zum Teil noch Englischkurse oder Deutschkurse angeboten.

Wie läuft der Unterricht im Gefängnis ab? Welche inhaltlichen Schwerpunkte werden gesetzt, welche didaktischen Formen verwendet?

Kurz vor acht Uhr gehen die Lehrkräfte in die einzelnen Abteilungen (z. B. Sexualstraftäterabteilung, Drogensuchtabteilung, Gewaltstraftäterabteilung), um die Insassen zum Unterricht abzuholen. Die Klassen sind deutlich kleiner als in einer Regelschule. Auch die Ausstattung unterscheidet sich sehr, denn digitale Medien dürfen nicht oder nur in Ausnahmefällen genutzt werden. Somit beschränken sich die Medien hauptsächlich auf Bücher und Schreibhefte. Zu Beginn des Schultages finden oft außerschulische Gespräche statt, in denen es um persönliche Anliegen der Insassen, wie beispielsweise das bevorstehende oder bereits stattgefundene Gerichtsverfahren geht. Wenn die Insassen sich über Belastungen oder Herausforderungen des Gefängnisalltags austauschen möchten, ist das möglich, was nicht zuletzt an der offenen Atmosphäre liegt, die die Lehrkraft Frau Franz herzustellen vermag.

Im Vormittagsblock gibt es eine ‚Raucherpause‘, in der die Insassen vom zuständigen Justizvollzugsbeamten abgeholt und nach draußen in den Innenhof begleitet werden. Hier fanden lockere Gespräche zwischen den Insassen, aber auch zwischen mir und den Insassen statt. In den wenigsten Fällen stand die Straftat im Mittelpunkt, sondern eher die Bewältigung des Gefängnisalltags oder allgemeine gefängnisunabhängige Themen.

Der Besuch der Schule unterliegt immer wieder Unterbrechungen, da die Insassen beispielsweise Besuch vom Anwalt bekommen oder zu Gericht müssen. Liegt dieser Fall vor, wird die Lehrkraft telefonisch darüber informiert. Die vielen Unterbrechungen im Schulbesuch erfordern von den Lehrkräften ein hohes Maß an Flexibilität.

Es wird ausschließlich im Frontalunterricht unterrichtet. Dies hat vermutlich unterschiedliche Gründe, wie z. B. Nähe-Distanz-Probleme und ‚Rangordnungen‘ zwischen den Insassen, sowie wenige Erfahrungen mit anderen Sozial- und Arbeitsformen. Es wäre wünschenswert, unterschiedliche Sozialformen auszuprobieren: Dann könnten entsprechende Kompetenzen wie beispielsweise Kooperationsfähigkeit und Rücksichtnahme auf andere trainiert werden, auch, um innerliche Distanzen zu anderen zu überwinden.

Insgesamt habe ich die jungen Erwachsenen als sehr motiviert in der Schule wahrgenommen. In der Praktikumsklasse herrschte eine insbesondere durch die Lehrkraft initiierte, angenehme Atmosphäre. Sie pflegte einen wertschätzenden und respektvollen Umgang mit den Insassen und ‚kämpfte‘ darum, dass jeder einen Abschluss bekommt. Den Schulbesuch nehmen die Insassen oft als Chance wahr, einen (höherwertigen) Abschluss zu erwerben. Zudem gibt es zum Schulbesuch wenig Alternativen und sie wären in der Zeit alleine oder zu zweit in der Zelle (Einzelzellen oder Doppelzellen). Sie hätten weniger soziale Kontakte und würden sich vermutlich schlichtweg langweilen.

Zu sehen ist ein Gefängnisflur
Justizvollzugsanstalt Stadelheim München, Foto: Claus Schunk

Können Sie in drei Sätzen die Gefängnisschule aus ihrer Sicht beschreiben?

Gespräche über Emotionen und Empfindungen der Insassen haben einen hohen Stellenwert.

Im Durchschnitt sind die Schüler motivierter als in meinen bisherigen Praktika.

Der Unterricht findet hauptsächlich im Frontalunterricht mit ‚Paper and Pencil‘ statt.

Worin wollten Sie sich professionalisieren? Was haben Sie gelernt?

Ich wollte in erster Linie erfahren, was die Subkultur ausmacht, die sich in einer solchen geschlossenen Institution bildet. Es wird viel über die Institution spekuliert und geurteilt, aber wie die Menschen dort wirklich sind und wie die Strukturen in einem Gefängnis aussehen, wissen nur diejenigen, die dort regelmäßig agieren. Das gesellschaftliche Leben und dasjenige im Gefängnis liegen weit auseinander, was für die Resozialisierung, also die (Wieder)Eingliederung in die Gesellschaft, sowie die Anerkennung ihrer Normen und Strukturen ziemlich kontraproduktiv ist.

Außerdem war mir wichtig, mehr Erfahrung im Umgang mit Heterogenität zu gewinnen, den Erfahrungshorizont über verschiedene Lebensbiografien und -geschichten zu erweitern. Es ging mir auch darum, den Insassen zuzuhören und ‚da zu sein‘, sensibel zu sein und dadurch zu erleben, dass Unterricht mehr ist als der zu vermittelnde ‚Lerngegenstand‘.

Konnten Sie Lerninhalte aus der Hochschule in der Praxis erfolgreich nutzen?

Manche Methoden bzw. Inhalte konnte ich gut umsetzen, andere hätte ich besser durchdenken und dem Strafvollzug anpassen müssen. Gut funktioniert hat bei einem Insassen, der nicht so gut Deutsch sprach, die Methode ‚Deutsch lernen durch Märchen erzählen‘ aus einem Literaturseminar. Ziel war, Sprachförderung durch das Nacherzählen eines Märchens zu erreichen. Dabei habe ich als Lehrkraft dem Insassen im 1:1-Gespräch ein Märchen mit den Mitteln der Erzählkunst und des Theaters vorgetragen, sodass er dies gut verstehen und emotional mitverfolgen konnte. Das war erfolgreich, denn der Insasse konnte das Märchen anschließend in seinen Worten wiedergeben und später den Justizvollzugsbeamten und den Mitinsassen freudig und stolz erzählen, obwohl ihm das im Deutschen sehr viel Mühe bereitet.   

Ergänzend zu den Seminarinhalten nehme ich es so wahr, dass die Pädagogische Hochschule Heidelberg eine gewisse Offenheit gegenüber allen Personen (Heterogenitätsdimensionen) bei den Studierenden anzubahnen versucht – aus meiner Sicht eher implizit statt explizit. Dies ist insbesondere im Strafvollzug eine Grundlage bei der Begegnung mit den Insassen, da es nur offen, wenig vorurteilsbehaftet und frei von Angst möglich ist, im Strafvollzug zu arbeiten und etwas zu erreichen.

Welche fachlichen Inhalte und didaktischen Methoden waren in der Praxis weniger erfolgreich?

Im Musikunterricht war es etwas schwieriger, da kulturelle Fächer kaum eine Rolle im Strafvollzug spielen. Ich habe trotzdem versucht, aktiv mit den Insassen zu musizieren. Ich habe zum Beispiel verschiedene Rhythmen mit der Stimme und mit Bodypercussion ausprobiert. Allerdings hätte ich die im Studium gelernten Methoden genauer durchdenken und den Vorerfahrungen der Insassen besser anpassen sollen. Es hat sich aber gezeigt, dass die Insassen Freude an Musik haben, denn ein Insasse ist nach dem Musikunterricht singend aus dem Klassenzimmer gegangen. Neben aktivem Musizieren habe ich mit einem Rap-Text gearbeitet, der von einem Insassen aus einer anderen JVA stammt. Die Insassen konnten sich zu diesem Rap-Text äußern und ihre persönlichen Erfahrungen, beispielsweise mit Drogen, darauf beziehen. Insgesamt war der Musikunterricht etwas ungewohnt, aber die Hemmschwelle würde sicherlich durch ein regelmäßiges Angebot verringert werden können. Auch außerhalb der Gefängnisschule gibt es keine Musikangebote in der Einrichtung – man kann sich lediglich eine Gitarre ausleihen oder an den wenigen Konzerten teilnehmen, die externe Musiktreibende im Strafvollzug anbieten. Insgesamt spielt Musik kaum eine Rolle, die Insassen haben auch nicht in allen Abteilungen die Möglichkeit, Musik zu hören.

Welche Alternativen gibt es im Anstaltsleben zur Schule?

Die Insassen können für etwas Geld im Strafvollzug arbeiten. Dies kann ein Hausarbeiterjob sein oder eine Tätigkeit, zu der bereits eine Ausbildung vorliegt, insbesondere als Handwerker. Zudem ist Sport möglich, etwa Training im Kraftraum oder Fußballturniere, allerdings an bestimmte Tage und Zeiten gebunden. 

Was hat Sie im Praktikum besonders überrascht?

Die Macht, die ‚Tür‘ hinter sich abzuschließen und die Insassen aktiv einzusperren. Das hat sich für mich befremdlich angefühlt. Sie haben mir persönlich ja nichts getan; mein Gefühl hat sich dagegen gesperrt, sie einzusperren, obwohl mir natürlich rational bewusst ist, dass das richtig ist. Ich war es auch einfach nicht gewohnt. Ich bin offen und vorurteilsfrei ins Feld gegangen – eine Voraussetzung für das Praktikum-, habe aber nicht erwartet, dass die Straftaten so unbedeutend für meine Tätigkeit dort sein würden. In der Auseinandersetzung mit Bildung sind die jeweils individuellen Gründe der Insassen für den Aufenthalt in der JVA für mich unbedeutend – es geht in erster Linie darum, dass sie einen Schulabschluss machen, dafür bestimmte Inhalte lernen und sich persönlich weiterentwickeln.

Zu sehen ist Heike Heine
Heike Heine, Foto hop/PHHD

Gibt es Themen oder Situationen, die Sie mit nach Hause genommen haben?

Die Suche nach Gründen und Erklärungen für das gesetzwidrige Handeln des Einzelnen. Ich habe mir vor allem Gedanken über die individuellen Schlüsselmomente gemacht, also die Auslöser für eine Straftat, die zum Beispiel 15 Jahre Freiheitsentzug nach sich zieht. Ich denke, dass viele Straftaten aus Affekt, also situationsbedingt passieren und nicht jahrelang geplant werden. Natürlich stellte sich mir auch die Frage, wie man es im Gefängnis aushält. Gibt es Strategien, die angewendet werden, um innerlich zu entfliehen, um trotzdem das Beste aus der Situation zu machen?

Als Professionalisierungsaufgabe sollten Sie einschätzen, ob die Gefängnisschule die Resozialisierung der Gefangenen unterstützt. Wie sind hier Ihre Erfahrungen?

Ein Schul- bzw. ein Ausbildungsabschluss kann ein wichtiges Sprungbrett für das Leben nach dem Strafvollzug sein. Auch helfen Betriebspraktika den Insassen, zu erfahren, was ihnen mehr oder weniger Freude bereitet. Aus meiner und der Sicht einiger befragter Kollegen:innen aus den Interviews, die ich im Rahmen meiner Bachelorarbeit geführt habe, fehlen in der Schule im Strafvollzug kulturelle Angebote, da dies aus unserer Sicht auch das gesellschaftliche Miteinander ausmacht: Vielfalt wie gemeinsame Musikangebote in einer Band oder im Chor, das Theater, zielgerichtete ‚Malkurse‘ oder eine größere Auswahl an Sportarten. Dieses gemeinschaftliche Momentum sollte deutlich mehr Platz in der JVA finden, da es ein grundlegendes Übungsfeld zur Resozialisierung bzw. zukünftigen Einbindung in die Gesellschaft darstellt.

Wovon haben Sie profitiert, auch im Hinblick auf Ihre zukünftige Arbeit in der Schule? Was können Sie Kommiliton:innen mitgeben, falls Sie deren Interesse geweckt haben?

Das Professionalisierungspraktikum in der JVA verändert in jeglicher Hinsicht den Erfahrungshorizont. Vom Unterrichtsablauf ähnelt die Gefängnis- der Regelschule, allerdings lernt man viele andere Facetten kennen. Gefängnisschule, das ist deutlich mehr als nur unterrichten und unterrichtet werden. Unerschrocken in ein neues Feld einzutauchen und aus dem Alltäglichen auszubrechen ist ebenso eine wertvolle Erfahrung. Zu lernen, den eigenen Gedanken und Gefühlen, die man vielleicht im Vorhinein gegenüber den Insassen hat, im direkten Kontakt weniger Raum zu schenken. Für mich persönlich war wichtig, im Sinne eines Empathietrainings sich auf die Insassen im ‚Hier und Jetzt‘ einzulassen und zu zeigen, dass es Menschen gibt, die ihnen zur Seite stehen. Und sich selbst in einem unbekanntenTerrain zu erproben; das ermöglicht, eigene Haltungen und Einstellungen zu entwickeln, zu prüfen und täglich zu reflektieren. Man lernt sich selbst in der JVA, und manchmal im dortigen Verlorensein, besser kennen.

Herzlichen Dank, liebe Frau Heine, dass Sie Ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben!

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